Samstag, 18. Juli 2009

Sternenstaub

1977 fragte der Astrophysiker Carl Sagan den kanadischen
Maler und Radioproduzenten Jon Lomberg, wie ein Künstler
das Wesen menschlicher Identität einem Publikum vermit-
teln würde, das noch nie Menschen gesehen habe. Zusam-
men mit Frank Drake, seinem Kollegen von der Cornell
University, hatte er gerade die NASA aufgefordert, eine aus-
sagekräftige Botschaft über die Menschheit zu entwerfen,
um sie den beiden Voyager-Sonden mit auf den Weg zu
geben, welche die äußeren Planeten besuchen und dann
durch den interplanetarischen Raum fliegen sollten, mög-
licherweise ewig.
Sagan und Drake waren bereits an einem anderen Projekt
beteiligt gewesen, bei dem zwei Raumsonden das Sonnen-
system hinter sich lassen sollten. Pioneer 10 und Pioneer 11
wurden 1972 beziehungsweise 1973 ins All geschossen, um
festzustellen, ob der Asteroidengürtel zwischen Mars und
Jupiter von Raumfahrzeugen überwunden werden kann
und um Jupiter und Saturn zu untersuchen. Pioneer 10 über-
stand 1973 eine dramatische Begegnung mit radioaktiven
Ionen in Jupiters Magnetfeld, sendete Bilder der Jupiter-
monde nach Hause und setzte seine Reise fort. Seine letzte
vernehmbare Nachricht traf 2003 ein; damals war er fast
dreizehn Milliarden Kilometer von der Erde entfernt. In
zwei Millionen Jahren müsste er den Roten Riesen Aldeba-
ran, das Auge im Sternbild Stier, in sicherer Entfernung pas-
sieren. Pioneer 11 umkreiste Jupiter ein Jahr nach seinem
Bruder und schleuderte sich dann unter Ausnutzung der
Gravitation des Planeten 1979 über Saturn hinaus. Seine
Bahn zeigte in Richtung des Sternbild Schütze; vier Mil-
lionen Jahre lang wird die Sonde keinem einzigen Stern be-
gegnen.

An den Rumpf beider Pioneer-Sonden sind vergoldete
Aluminiumplatten - je 15 x 23 cm - genietet, auf denen sich
Strichätzungen von Sagans damaliger Frau Linda Salzman
befinden. Sie zeigen ein nacktes Menschenpaar, die Position
der Erde im Sonnensystem und die Stellung der Sonne in der
Milchstraße werden grafisch dargestellt, dazu die kosmische
Entsprechung einer Telefonnummer: eine mathematische
Formel, die auf dem Übergangszustand des Wasserstoffs be-
ruht und die angeben soll, auf welcher Wellenlänge unsere
Empfänger ins All lauschen.

Die Botschaften in den Voyager-Sonden sollten nun, so
erklärte Sagan Jon Lomberg, sehr viel mehr Einzelheiten
über uns enthalten. Da es noch keine digitalen Medien gab,
hatte Drake ein Verfahren entwickelt, um auf einer vergol-
deten Kupferplatte Laute und Bilder analog aufzuzeichnen.
Hinzufügen wollte man einen Tonabnehmer und, wie man
hoffte, verständliche Abbildungen, die erklärten, wie man
den Datenträger abspielen sollte. Sagan bat Lomberg, einen
Schaukasten zu entwerfen, der, selbst ein Kunstwerk, die
wahrscheinlich letzten Relikte des ästhetischen Ausdrucks
der Menschheit enthalten sollte. Einmal im All, wäre der
vergoldete Aluminiumkasten mit den Aufzeichnungen der
Erosion durch kosmische Strahlen und Staubpartikel ausge-
setzt. Nach vorsichtigen Schätzungen bliebe der Kasten min-
destens eine Milliarde Jahre lang, vermutlich aber viel länger
intakt. Bis zu der Zeit könnten tektonische Verwerfungen
oder eine aufgeblähte Sonne unsere letzten Relikte längst in
ihre molekularen Bestandteile zerlegt haben. So wird die
Botschaft in der Raumkapsel vielleicht die Hinterlassen-
schaft der Menschen sein, die der Ewigkeit am nächsten
kommt.

Um das Problem bis zum Start der Sonde zu lösen, blie-
ben Lomberg nur sechs Wochen. Seine Kollegen und er be-
fragten Experten in aller Welt, Semiotiker, Denker, Künstler
und Science-Fiction-Autoren nach Darstellungsweisen, die
für Adressaten, von denen man keine Vorstellung hatte, am
ehesten verständlich seien. (Jahre später half Lomberg auch
beim Entwurf der Warnhinweise, die in der WIPP in New
Mexico auf die unterirdischen Gefahren radioaktiven Mate-
rials aufmerksam machen sollten.) Die Platte enthielt in 54
Sprachen aufgezeichnete Grußworte, außerdem die Stim-
men von Dutzenden anderen Erdbewohnern, von Spatzen
bis zu Walen, und das Geräusch von Herzschlag, Brandung,
einem Presslufthammer, knisterndem Feuer, Donner und
den Kuss einer Mutter.

Zu den Abbildungen gehörten Diagramme der DNS und
des Sonnensystems, Fotografien von Landschaften, Gebäu-
den, kleinen und großen Städten, stillenden Frauen, jagen-
den Männern, Kindern, die einen Globus betrachten, Sport-
lern in Wettkämpfen und essenden Menschen. Da die Finder
möglicherweise nicht in der Lage sind, in einem Foto mehr
als abstrakte Schnörkel zu erkennen, zeichnete Lomberg zu-
sätzlich noch einige Silhouetten ein, um Gestalten und Hin-
tergründe deutlicher unterscheidbar zu machen. Zu dem
Porträt einer fünf Generationen umfassenden Familie zeich-
nete er die Silhouetten der einzelnen Personen nach und
fügte Anmerkungen hinzu, die Aufschluss gaben über ihre
relativen Größen, Gewichte und Lebensjahre. Bei einem
Menschenpaar machte er in der Frauensilhouette die Gebär-
mutter transparent, damit der darin wachsende Fötus sicht-
bar wurde - in der Hoffnung, dass die Idee eines Künstlers
auch Zeit und Raum überwinden könnte, um sich mit der
Vorstellungskraft eines unbekannten Betrachters zu ver-
binden.

»Meine Aufgabe bestand nicht nur darin, alle diese Bilder
zu finden, sondern auch sie so anzuordnen, dass sie aneinan-
dergereiht informativer waren als die Summe der einzelnen
ßilder«, erinnert er sich heute in seinem Haus auf Hawaii
unweit des Vulkans Mauna Kea und dessen Sternwarte. So
begann er mit Dingen, die ein kosmischer Reisender am
ehesten erkennen könnte: Planeten, vom Weltraum aus ge-
sehen, die Spektren von Sternen, Bilder auf einer evolutio-
nären Zeitleiste, von geologischen Zeitaltern über die Bio-
sphäre bis zur menschlichen Kultur.

Ähnlich arrangierte er die Geräusche und Laute. Obwohl
Maler, war er der Ansicht, dass Musik bessere Aussichten als
Bilder hätte, ein außerirdisches Gemüt zu erreichen: Einer-
seits, weil sich Rhythmus in der Physik manifestiert, aber
auch, weil sie für ihn »von der Natur abgesehen, das
sicherste Mittel ist, mit dem in Kontakt zu kommen, was
wir Geist nennen «.

Die Platte enthält sechsundzwanzig ausgewählte Beispie-
le, unter anderem die Musik von Pygmäen, Navajo-India-
nern, aserbaidschanischen Sackpfeifern, Mariachi - Kapellen,
Chuck Berry, Bach und Louis Armstrong. Lombergs Lieb-
lingsbeispiel war die Arie der Königin der Nacht aus
Mozarts »Zauberflöte«. Darin demonstriert die Sopranistin
Edda Moser, begleitet vom Orchester der Bayerischen
Staatsoper, die oberste Grenze der menschlichen Stimme,
indem sie den höchsten Ton des üblichen Opernrepertoires
singt, das hohe F.

Lomberg und Timothy Ferris, Produzent der Platte und
ehemaliger Redakteur der Zeitschrift Rolling Stone, setzten
durch, dass die Arie berücksichtigt wurde. Sie zitierten Kier-
kegaard, der einmal schrieb: »Mozart gesellt sich jener klei-
nen, unsterblichen Schar hinzu, deren Namen, deren Werke
die Zeit nicht vergessen wird, da die Ewigkeit ihrer gedenkt.«
Lomberg und Ferris waren stolz, dass sie mit Voyager ein biss-
chen zur Erfüllung dieser Prophezeiung beitragen konnten.

Die bei den Voyager-Sonden wurden im September 1977
in den Weltraum geschossen. Beide passierten Anfang 1979
Jupiter und erreichten zwei Jahre später Saturn. Nach seiner
sensationellen Entdeckung aktiver Vulkane auf dem Jupiter-
mond 10 tauchte Voyager 1 unter Saturns Südpol ab und ge-
währte uns einen ersten Blick auf dessen Mond Titan, der ihn
aus der elliptischen Ebene des Sonnensystems hinaus und an
Pioneer 10 vorbei in den interstellaren Raum schleuderte.
Heute ist er weiter von der Erde entfernt als irgendein ande-
res Objekt von Menschenhand. Voyager 2 machte sich eine
seltene planetarische Konstellation zunutze, um Uranus und
Neptun zu besuchen, und lässt jetzt ebenfalls das Sonnen-
system hinter sich.

Lomberg beobachtete den Start der ersten Voyager-
Sonde mit der vergoldeten Hülle der Platte, die seine Dia-
gramme über den Heimatplaneten des Raumfahrzeugs und
über die Verwendung der Platte enthielt - Zeichen, von
denen Sagan und Drake hofften, dass eine fremde Intelli-
genz sie entziffern könne, obwohl wenig Hoffnung besteht,
dass die Platte je gefunden wird, und noch weniger, dass wir
je davon erfahren. Allerdings sind weder die Voyager-Son-
den noch ihre Informationsträger die ersten Lebenszeichen
von uns, die über unser Planetensystem hinausgelangen.
Sogar wenn der unaufhörliche Abrieb durch interstellare
Staubpartikel die Sonden und ihren Inhalt nach Jahrmilliar-
den selbst zu Staub verschlissen hat, bleibt uns noch immer
eine Chance, dass man jenseits unserer Welt von uns erfah-
ren wird.

Aus "Die Welt ohne uns" von Alan Weisman

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